Karmelitenkirche, München, Promenadeplatz 2002
Diözesanmuseum Freising
Lawrence Carroll
Getting Lost
Getting Lost
Lawrence Carroll ist aus Los Angeles gekommen, in der Karmelitenkirche in München einen Raum der Stille zu bauen. In der verwunschenen, vierhundert Jahre alten Remise auf dem Domberg in Freising hat er die Arbeit vorbereitet. Die Idee war vorher da: Boxen wollte er in die Stirnwand der Kirche einlassen, aus Holz gebaute Kästen, verschlossen mit Glas und darin große weiße Leinwände. Vor dieser Wand auf dem Boden liegend ein Lüster. Gefaltete, "schlafende" Gemälde, Licht und Stille. Statt Bilder an der Wand – Bilder in der Wand. Statt einer Ausstellung – die Verwandlung des Raumes.
Eine solche Arbeit hat Carroll nie zuvor gemacht. Sicher, seine früheren Werke sind hier wiederzuerkennen: in ihrem Einfachen, Puren, Reduzierten, in den rohen Materialien: Holz, alte Planen, Wachs, simples Licht, gebrochenes, ja schmutziges Weiß. Man erinnert die Schachtelungen, Faltungen, Inserts, die gestückelten Leinwände. Immer schon Malerei und Skulptur zugleich, hat Lawrence Carroll die verschiedenen Elemente zu wunderbaren räumlichen Inszenierungen gefügt. Nie aber waren sie Teil der Architektur wie hier.
Die Kirche, in der Mitte des 17. Jahrhunderts für die Karmelitenmönche errichtet, wurde nach deren Vertreibung 1802 aller barocken Bildwerke und Altäre beraubt und dann nach dem Zweiten Weltkrieg radikal verändert: der basilikale Langbau durch eine Querwand geteilt, das Kreuzgewölbe durch eine langgezogene Decke hinauskatapultiert. Durch Carrolls Installation erhält sie die durch Säkularisierung, Zerstörung, Wiederaufbau und disparate Nutzung verloren gegangene Aura zurück. Mitten im Zentrum der Stadt und doch meist verschlossen, öffnet sie sich nun den Besuchern und Passanten als ein Raum der Stille. Räume der Stille fehlen im Lärm der Städte, Räume des Rückzugs, der Kontemplation. Als seltene Inseln im Gedränge, in der Geschwindigkeit der Fortbewegung, in der rasend schnellen Kommunikation und der allzu rasch verfließenden Zeit: Räume der Besonnenheit, des beschützenden Friedens, Orte, die das Gespräch mit sich selbst und mit dem anderen initiieren und beflügeln. Wie aus der Ferne in der Vorstellung erdacht, hat Lawrence Carroll die Wand gebaut. Intuitiv hat er den "richtigen" Rhythmus der Boxen gefunden; sie schweben in freier Unordnung und zugleich großer Ausgewogenheit. Den "Lüster" hat er spontan, beinahe unbewußt, wie im Traum gebaut, diesen, seinen ersten "chandelier", fragil, aus kleinen Holzstücken, die jahrelang in seinem Atelier herumlagen, eher Zeichnung als Skulptur. Wie die Portraits, die er vor dem Einschlafen mit geschlossenen Augen zeichnet: chaotisch und ausbalanciert in einem. Aus dem Boden wachsend wie eine Pflanze. Leise Licht bringend, reflektiert in den "Fenstern" der Wand. Suggestiv, verschwommen, diffus, wie im Nebel oder wie im Traum. Das Licht ist verhüllt gleich den Gemälden. Merkwürdig: wie Carrolls frühere Arbeiten gestaffelten Körpern gleich aus der Wand hervorzukommen scheinen, so sind sie jetzt in der Wand versenkt, "burried"? –, und davor wächst etwas Neues.
Es wäre nicht schwer und vielleicht auch plausibel, diese Arbeit Carrolls in einen kultischen Kontext einzuordnen. Läßt sich da nicht ein Bogen von Box zu Schrein schlagen, zu Reliquie, Monstranz, also zu Objekten der Andacht, der Verehrung, der Versenkung? Kommt einem nicht die Idee, dies sei eine zeitgenössische Version der Ikonostase, dieser Schwelle, wo sich sichtbare und unsichtbare Welten berühren, der Ikonostase, die - wie es Pavel Florenskij beschreibt - Fenster in die Wand schlägt, "Fenster in die Ewigkeit"?
Man könnte auch vermuten, das Falten sei archaische Handlung. Was hat das zu bedeuten, wenn der Künstler die bemalten Leinwände faltet? Ein-fältig, zwei-fältig: es entstehen Kraftlinien, Energiefelder, die Form des Kreuzes, eine Dichte der Dimensionen von Fläche, Tiefe und Zeit. Aber Lawrence Carroll illustriert keine religiöse Praxis und nicht archaische Muster. Er schafft eine eigene Welt. Es ist ein Verständnis von Malerei, das geradezu märchenhafte Züge trägt. Bilder legen sich "schlafen". Eine einfache, beinahe naive Vorstellung: Bilder sind lebendig. Sie leiden, atmen, schwitzen. Sie legen sich zur Ruhe. Sie sind gefaltet, gebettet, verstaut, versenkt in der Wand. In der Faltung bewahren sie ihr Geheimnis. Schlaf, Traum, Trance, Erinnerung, Aufbewahrung, Vergessen. Was verbergen sie? Was umhüllen sie? Falten meint nach dem Philosophen Leipniz: Vermindern, Reduzieren, "Rückkehr in die Tiefe der Welt" (1687, nach Gilles Deleuze). Jede Box ist ein Raum der Stille. Verschlossen und doch geöffnet: die Oberfläche ein Fenster, in das Licht fällt. Stillstand der Zeit. Innerlichkeit des Raums. Höhle. Schlafender Keim. Komprimierung, Schichtung, Energie. Von den Faltungen der Materie zu den Falten in der Seele? Was ruht in der Schatulle? Was ist drinnen, was draußen, was privat, intim, was öffentlich?
Das ist kaum zu beschreiben, letztendlich vielleicht nur zu fühlen. Sicher, es bieten sich Vergleiche an, aber sie taugen wohl nur zur Abgrenzung. Carrolls Arbeit hat nichts gemein mit den Kisten und Kästen und gestapelten Materialien und Verhüllungen von "Storage", er archiviert nicht konkrete historische Spuren. Carroll repräsentiert nicht die Minimal Art, auch wenn seine Formensprache minimalistisch ist. Und auch gehört er nicht zur Arte Povera, wenn gleich seine Materialien arm anmuten. Die bloße Form interessiert ihn nicht und auch nicht die Sinnhaftigkeit des Materials. (Wie illuster die Geschichte der Leinwände sein mag – daß sie Zelte sind, je neun zusammen geschlossen zu einer einzigen Fläche in jeder Box, und gebraucht - deutsche Volksarmee, Schutz, Behausung, Camouflage, Verteidigung, Versteck –, das ist nicht von Bedeutung.)
"It’s an own story." Carroll geht es um Inhalt, um Transformation, um metaphysische Qualität, um Verweischarakter. "What you see is not what you get." Die Fassade ist nur eine Referenz für das, was dahinter steht. Carroll will keine Theorie. Er meint nicht eine Sache. Er stellt Fragen. Und er will, das seine Arbeit zugänglich ist: "to bring it down here where we walk: "a place of living", "a place of questions", "a place of humaness". "Es ist wirklich ein Raum der Stille", schreibt eine Besucherin, "und dann beginnt Inside der Bruch des Schweigens."
Petra Giloy-Hirtz
Direktor: Peter B. Steiner
Kuratorin: Petra Giloy-Hirtz
Grafik Design: buero schmid (München)
Photos: Christoph Knoch
PR: Claudia Weber