Rites de passage
Ein Knabe singt die Totenmesse mit reiner Stimme. Hingegeben an die Musik, schön wie ein Engel, der die verstorbene Seele geleitet In Paradisum. Gegen die Sprachlosigkeit des Todes und gegen das Verstummen im Tod ist sein heller Gesang, von Orgel begleitet, anrührend, Trost und Hoffnung. Doch da zittert die Stimme, die Töne brechen, rauh statt makellos – und der Junge schlägt die Augen nieder in Unsicherheit und Scham.
Der Betrachter und Zuhörer wird Zeuge einer Verwandlung. Wie in einem Zeitraffer erlebt er einen dramatischen Prozeß, eine der bedeutsamsten Metamorphosen des Lebens - den Verlust der Stimme als den Verlust der Kindheit. Die Traurigkeit des Kindes, sein Wissen um den Abschied, die Einsamkeit in der Grenzerfahrung. "Where will you go when this day is over?", fragt eine männliche Stimme aus dem Off. Der Junge wählt den kreativen Akt anstelle stiller Melancholie oder leidenschaftlicher Rebellion. Selbstbewußt voll klingt jetzt seine Stimme in einer tieferen Tonlage. Statt des frommen lateinischen Textes englische Verse, statt geistlicher Musik mehr Musical, statt kindlicher Frömmigkeit die Selbstreflexion. Initiation führt Simone Böhm vor im Medium geistlicher Musik und kirchlicher Liturgie am sakralen Ort: in der Kapelle eines ehemaligen Knabenseminars. Sie zeigt in ihrem Video den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter und thematisiert damit jene Schwellenerfahrung, die immer unkenntlicher und unerlebter wird in einer modernen Gesellschaft, die keine Inititationsriten mehr kennt, die als gesellschaftliche Ereignisse den Übergang lenken, und die so die Adoleszenzkrise gleichsam neutralisiert hat.
Abschied und Neubeginn, Vergangenheit, Trennung und Verlust, Erinnerung, Kindheit und Jugend, die allzu rasch verfließende Zeit: das sind Themen der Arbeiten von Simone Böhm. Im Medium von Photographie (Schön wird es gewesen sein, 1997), Video und Rauminstallation sucht sie die Zeit anzuhalten, dem Augenblick Dauer zu geben, das Verschwundene zur Erscheinung zu bringen. So schaukeln das kleine Mädchen und die junge Frau - beide gleich gekleidet, gleich frisiert - lebensgroß auf Videoleinwänden aufeinander zu, der Betrachter dazwischen: als wäre das Mädchen nie abgestiegen von der Schaukel - rasende Lebenszeit, die eine Stimme immer gehetzter zählt. "Der Horror vor dem zu schnell vorbeiziehenden Leben" (Simone Böhm) – der Horror vor dem Tod? (I like to count, 1999) Tauben hatten sich in der dunklen Remise auf dem Domberg in Freising niedergelassen, aus fluoreszierender Leuchtknetmasse geformt, die Licht für einen kurzen Moment zu speichern vermag (Sie haben hier nichts zu suchen, Schöpfung, 1999). Von starken Lichtimpulsen aufgeladen, wurden die Vögel in dem finsteren Raum blitzartig sichtbar und verglühten kaum noch bevor das überraschte Auge die "immaterielle Lichterscheinung" hat wahrnehmen können. Für einen Augenblick nur war das Abwesende im Licht gebannt.
Simone Böhms Arbeiten sind keine melancholische Zeitenklage. Im Gegenteil, sie sucht das Vergangene als Quelle der Erneuerung für die Gegenwart zu nutzen. Schon in The Beautiful Sound of Seduction, 2000, einer Videoinstallation mit großformatigen Projektionen von Gesichtern vier gestylter junger Menschen, die im Dialog unzählige Passagen aus Love- Songs singen, hat die Künstlerin die sentimentale, nostalgische Qualität der Musik als beflügelnde Kraft verstanden. Auch hier ging es um Rollenbesetzung und Identitätswechsel wie in Casting. Wie gut ist die Rolle besetzt? Wie wandelt sich die Lebensform des Sängerknaben, des begabten Kindes? Wenn Simone Böhm nun statt Jugendkultur und Popmusik ein Requiem (op. 9 Maurice Duruflé, 1902-1986) wählt, erweitert sie das Spektrum um existentielle Fragen nach Leben und Tod, nach Vorstellungen vom Jenseits und wie ein Leben zu führen sei.
Petra Giloy-Hirtz