Diözesanmuseum Freising 2002
Marco Neri
Malerei
Marco Neri
Fenster zur Welt, Fenster zum Himmel
Fenster für Freising! Drei Fenster der Nacht "mit nächtlichem Himmel und funkelnden Sternen", ein Fenster des Tages "geschlossener Vorhang, durch den das Licht von außen hinein dringt ins Zimmer", ein weiteres mit Blick auf den Flughafen München "zwei Eingänge, einer im Licht, einer im Schatten" und ein Fenster-Kreuz. Sie öffnen den Raum. Hier der Blick über die Stadt, der Blick in die Landschaft durch die Fenster der Architektur – dort der Blick durch die Fenster der Malerei: ins Firmament, in die alltägliche moderne Welt und auf das christliche Symbol des Kreuzes, das der Arbeit den Titel gibt: Il segno della croce. Im hellen oktagonalen Raum als Blickfang der Vorhang, hinter dem ein geschützter Raum der Intimität entsteht. Der italienische Künstler Marco Neri hat diese Fenster für das Diözesanmuseum geschaffen, sechsteilig, Tempera auf Leinwand, in den identischen Maßen der Fenster der klassizistischen Architektur.
Marco Neri malt, nicht die individuellen Imaginationen im Kopf wie die Künstler der Trans Avantgardia der siebziger Jahre, keine Erfindungen, sondern das, was die Realität ihm zeigt: die Gesichter seiner Freunde, die Landschaft, den Himmel, die Fenster seines Ateliers. "Pittura normale", sagt er bescheiden. Wo seine Generation international Aufsehen erregt mit Installationen und Videos, vertraut Marco Neri in die poetische Substanz und ethische Qualität der Malerei. Kein Raffinement der Technik: seine Farben sind simple Wandfarben oder Tempera, das singuläre Bild ist manchmal unspektakulär und gewinnt in der pulsierend rhythmischen Serie. "Altmodisch", den Pinsel mit der Hand zu führen, den Herzschlag, das Pulsierende als "Spur der Zeit", als "Spur des Herzens" auf die Leinwand zu bringen. Fontana zerschneide die Leinwand, um den Raum dahinter zu öffnen, Alighiero Boetti nähe sie wieder zusammen und er, Marco Neri, male darauf. Von wegen bescheiden! Und welchen Künstler er schätzt? Es ist Giorgio Morandi, der Maler aus Bologna – der Stadt, an deren Kunstakademie Neri studierte -, der auch seinen Blick der Wirklichkeit zuwandte. Die trokkene Brillanz der Figuren der Renaissancemaler hatte jenen fasziniert; bei Giotto, Masaccio, Uccello fand er das, was auch seine Kunst ausmacht: die Neigung zur Ruhe, zu einer Konstanz der Dinge, eine Stille, die im Bild selbst erzeugt wird, das Verweilen im Augenblick. Seine "Italianità" begründet ein modernes künstlerisches Bewußtsein: nicht die Dinge abzubilden, sondern sie als eine Metapher von Licht, Raum, Körper und Zeit darzustellen. Marco Neri lebt in der Provinz, nahe seinem Geburtsort Forli und fern der Zentren der Kunst in Torriana, einem Dörfchen in den hügeligen Ausläufern der Marken oberhalb Riminis mit atemberaubenden Ausblicken in eine grandiose Landschaft. Einer internationalen Öffentlichkeit mit einem Mal bekannt geworden ist er durch seinen Beitrag zu der von Harald Szeemann kuratierten Schau Plateau der Menschheit auf der Biennale in Venedig 2001: Quadro Mondiale hieß seine Arbeit: die Flaggen aller Nationen der Erde, Malerei auf 192 Leinwänden, installiert zu einer politischen Landkarte: jede Nation auf 35 x 50 cm. Ein Bild für die Absurdität der politischen Aufteilung der Erde, für übertriebenes Nationalgefühl oder eine Vision von der Gemeinsamkeit aller Völker? Mit Farben und Symbolen – Monde, Sonnen, Sichel, Sterne, Kreis, Kreuz, Diagonale – interpretiert Neri die Welt. Und so bündeln jene "bandiere" die vorangegangenen Arbeiten: nach den Portraits der Freunde, nach denen der Landschaft und denen der Stadt nun das "Portrait eines Kollektivs". In ihm sind alle Landschaften und alle Geschichten der Welt aufgehoben.
Marco Neri glaubt an die Kraft der Malerei, zentrale, existentielle Themen zu behandeln. Mehr noch: Er träumt den Traum eines universellen Werkes, einer Synthese. In diesem Sinne, erklärt er, resultiert seine Arbeit für Freising aus der für Venedig.
Mit den Freisinger Fenstern öffnet er eine weitere Dimension. Ein Triptychon wie ein Altarbild: in der Mitte das Kreuz, der Maler, pictor, zur Rechten, der Bildhauer, sculptor, zur Linken. Der Blick fällt in die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit. Die verschiedenen Farben der Sterne verweisen auf ihre unterschiedliche Distanz. So wird die Farbe zum Symbol der Zeit. Marco Neri teilt die Faszination vieler zeitgenössischer Künstler für das Universum - wie Thomas Ruff und Imi Knoebel im Medium der Photographie oder Ugo Dossi und Grazia Toderi in ihren Videoarbeiten für die Ausstellung Himmelfahrt im Diözesanmuseum im Jahr 2000 - als dem Projektionsort für Träume, Phantasien und Erzählungen, als Erfahrungsraum für Tod und Wiedergeburt. Neri zitiert die Konstellationen des südlichen Sternenhimmels. Hier findet sich das Kreuz in die Gestalt des Kosmos eingezeichnet. Hier ist es Weltformel, Grundstruktur, die den Raum gliedert, die Richtungen bestimmt und die Ordnung festlegt.
Das Universum wie die alltägliche Realität werden eingefangen in der Form des Kreuzes. So erscheint im Fensterkreuz auch der in direkter Nachbarschaft gelegene Flughafen, Ort der Ankunft, des Abfluges, der Durchreise. (Man erinnert Neris Faible für Flugzeuge, die er in chromatischen Blautönen gemalt hat, als Sinnbilder der Mobilität vielleicht, die Grenzen zu überschreiten, Erdhaftung aufzugeben, sich in den Himmel zu erheben.) Und das christliche Zeichen selbst erscheint, weiß auf rotem Grund, entwickelt sozusagen aus der Flagge (der dänischen - senkrecht gestellt), im Weiß die Reinheit, im Rot Blut und Leben bedeutend. Im Draußen und Drinnen der Fenster spiegeln sich das Offene und das Geschlossene, Tag und Nacht, Nähe und Ferne, Enge und Weite, Innenraum und Außenwelt, das Öffentliche und das Private, Religion und Alltag, das Säkulare und das Profane, Sein und Nichtsein, Diesseits und Jenseits. Christlich gedacht ist die Auflösung jener Dialektik allein möglich in der Erlösung durch Christus. Er ist die "recapitulatio mundi", was meint, daß in ihm alles zusammenfällt, "was im Himmel ist und auf Erden" (Epheser 1,10).
Petra Giloy-Hirtz
Direktor: Peter B. Steiner
Kuratorin: Petra Giloy-Hirtz
Grafik Design: buero schmid (München)
Photos: Christoph Knoch
PR: Claudia Weber