Gewaltige Bilder, dem Leben abgeschaut, bunte Fenster zur Welt im Zeichen des Kreuzes: im Lichthof des Diözesanmuseums die erste Etappe der Stationen, im Barocksaal die zweite. Szenen aus dem Alltag wie F ilmstills. In imposantem Format und leuchtend lauten Farben zeigen sie Ausschnitte privaten und öffentlichen Lebens in der Großstadt: im Park, im Straßenverkehr, auf dem Friedhof, in Bars und Restaurants, Vorgärten, Sportstadien, zu Hause. Lisa Ruyter nimmt Wirklichkeit mit dem Photoapparat wahr, die Photographie dann transformiert sie in Malerei. In unverkennbarer Handschrift zeichnet sie die schwarzen Linien figürlicher Umrisse und architektonischer Strukturen und setzt in die konturierten Flächen dazwischen Farbe überbordend bunt. Bilder urbanen Lebens entstehen so, die in ihrer Ästhetik, in Sujet, Technik und Farbgebung an die Pop-Art der sechziger Jahre erinnern.
Jene vierzehn Bilder des Gewohnten, des Alltäglichen nun bringt Lisa Ruyter in einen direkten Zusammenhang mit der in den Evangelien erzählten Geschichte der Passion Christi und der katholischen Andachtsform des Kreuzweges. Sie selbst entwirft damit einen Rahmen für die Deutung ihres Werkes. Über das ästhetische Vergnügen hinaus, das die Bilder dem Betrachter bereiten mögen, und die vielen Erzählungen, eröffnet sie den anderen Blick. Der Kreuzweg als Beschreibungsmuster für den Zustand der Gesellschaft? Erklärung der Welt auf der Folie des Leidens und Sterbens Christi? Lisa Ruyter sucht die Auseinandersetzung mit religiösem Denken und Handeln, sie führt das int erdisziplinäre Gespräch – mit Jack Miles – und bevorzugt einen Ort des Dialogs mit christlicher Malerei. Sie scheut sich nicht, jenes Thema aufzugreifen, wenngleich die Tradition ehrwürdiger Meisterwerke des christlichen Abendlandes überwältigend ist und Barnett Newmans The Stations of the Cross: Lema Sabachthani (1958-66) wirkungsmächtig im Bewußtsein.
Ein Interesse am Religiösen, nicht nur im Sinn eines irgendwie Spirituellen, sondern als dezidierte Bezugnahme auf eine christliche Überlieferung, scheint neu erwacht in der zeitgenössischen Kunst. Als würde sie entdecken, daß vor allen Dogmen einer institutionalisierten Kirche das Christentum uns die Idee der F reiheit, der Menschlichkeit, der Liebe, der Transzendenz gab und den Weg freilegte in unser Inneres, damit zur Liebe, zum Geist.1 Welch eine Wandlung in der kurzen Zeit weniger Jahre! Wie skeptisch das Programm zeitgenössischer Kunst des Diözesanmuseums beobachtet wurde, des Sakralen verdächtig aus dem Blickwinkel der Kunstwelt, des Profanen verdächtig aus dem der Kirche. Wie behutsam sich die Künstler von jeglicher Illustration biblischer Erzählungen oder der Adaption ikonographischer Muster fernhielten! Das Religiöse bewahrte eher die Abstraktion, das Transzendente erschien im Licht, im Klang, in Themen wie Zeit, S terblichkeit, Metamorphose, Geist, Himmel, Schöpfung, es war verhüllt, verborgen, eher eine dem Betrachter eröffnete Erfahrung als direkt sichtbar im Kunstwerk. Allein Gemälde Kai Althoffs waren direkt in ihren biblischen Allusionen.
Und jetzt in den bedeutendsten Kunsthäusern Münchens: "Ausstellungen scheuen nicht vor spirituellem Pathos zurück".2 Zeitgleich im Haus der Kunst Die Sieben Sakramente der irischen Künstlerin Abigail O’Brien (geboren 1957), die katholische Rituale nimmt als "framework to put in the ideas", als Projektionsf läche für ihr Interesse an der Lebenssituation der Frauen, an Alltagsritualen, rites de passage. Einen "Themenpark an der Grenze zwischen Himmlischem und Irdischem" entwirft der New Yorker Künstlers Matthew Weinstein (geboren 1964) in der Pinakothek der Moderne mit seinen Universal Pictures von Stacheldraht-Dornenkrone, Frisbiescheibe-Heiligenschein oder Apfel des Sündenfalls – Lesbarkeit der Welt im Potpourri der Religionen. Die Städtische Galerie im Lenbachhaus zeigt die Via Dolorosa des britischen Künstlers Mark Wallinger (geboren 1959), "eine partiell gelöschte filmische Version von Christi Kreuztragung und seinem Gang zum Kreuz bis hin zu seinem Tod". Die religiösen Bilder der Kunstgeschichte sind wieder präsent – gegen ein anderes Verständnis von The Sublime is Now: "Wir entledigen uns des Ballasts von Erinnerung, Assoziation, Nostalgie, Legende, Mythos oder was auch immer der europäischen Malerei als Mittel diente. Statt Kathedralen aus Christus, der Menschheit oder dem ‚Leben’ zu machen, schaf fen wir sie aus uns selbst, aus unseren eigenen Gefühlen." 3 Abigail O’Brien ist Nicolas Poussins Sakramentszyklus (1635/1644-48) verpflichtet, Bill Viola, dessen Passions die Alte und Neue Pinakothek erwarten, greift auf Albrecht Dürers Die Vier Apostel (1526) zurück oder die Pietà von Tommaso di Cristofano (1424). Sam Taylor-Wood bezieht sich mit der ikonischen Form der Darstellung in ihrer Farbphotographie Soliloquy II (1998) auf Altarbilder der Frührenaissance wie Fra Angelico oder Andrea Mantegna und so fort.
Lisa Ruyter ist jegliches spirituelle Pathos fern. Ihre Bilder leben nicht vom Zitat christlicher Symbole oder dem Verweis auf religiöse Rituale. Sie bebildert nicht die P assionsgeschichte. Ihr Zyklus Stations of the Cross unterscheidet sich auf der Bildebene nicht von ihren anderen Arbeiten: Aneignung der Welt durch den Schnappschuß. Menschen beim Reden, Essen, spielende Kinder, Kleinfamilie, Skater, Biker. Die Künstlerin beobachtet und wählt aus, aber sie inszeniert nicht ("I am not a realis tic painter, but I am deeply interested in the idea of realism."). Ihr Thema ist das Interesse am Leben – und das Interesse am Tod. (So heißt eine Serie "Imitation of Life", die gleichwohl Bilder der Geschichte des Todes versammelt, Friedhöfe mit ihren Grabkreuzen und Monumenten, Ort des Trauerns und Gedenkens, der Begegnung der Lebenden und der Toten.) Der christliche Kontext entsteht über die Sprache! Es sind die Namen, die sie ihren Bildern gibt – gegen jeden Widerspruch -, die herkömmlichen Titel des Kreuzweges, die sie als Künstlerin nur leicht verändert: "I took away the reference to gender". Und es ist der Text von Jack Miles "as part of the work". "There is a special story, although everybody also has their own story."
The Stations of the Cross - Barnett Newman geht auf Distanz: "Der Titel sollte als Metapher für meine Gefühle beim Malen dieser Bilder s tehen. Er ist nicht wörtlich zu verstehen, sondern als Hinweis. Jede Kreuzwegstation in meinem Leben war auch eine Station in meinem persönlichen Leben – in meinem Leben als Küns tler. Es ist ein Ausdruck dafür, wie ich gearbeitet habe. Ich war ein Pilger beim Malen."4 Stations of the Cross - Lisa Ruyter: "It’s not about my biography, it’s about how I am in the world." "I was brought up with this story." "It’s definitely part of my unconscious understanding of the world."
Lisa Ruyter sucht die Synthese. Dichotomien sind ihr formale Konstruktionen. Inhalt und Form gehören für sie zusammen. Bild und Sprache, Abs traktion und Figuration, Photographie und Malerei, Oberfläche und Tiefe, das Alltägliche und das Symbolische - wie das Profane und das Heilige.
Petra Giloy-Hirtz