Wie kaum eine andere zeitgenössische Künstlerin ist Kiki Smith ist mit den existentiellen Fragen des Menschsein befasst. Viele ihrer Werke sind inspiriert von christlicher Ikonographie und religiösen Erzählungen. So haben die historischen Sammlungen des Diözesanmuseums mit ihren Gemälden, Skulpturen und unzähligen Objekten der Volksfrömmigkeit für sie eine große Faszination. „Ich habe die Theorie, dass der Katholizismus und die Kunst gut zusammenpassen, weil beide an die körperliche Manifestation der geistigen Welt glauben – dass man durch die materielle Welt ein spirituelles Leben hat...“, sagt sie. Wenn sie selbst nun ein Bild des reflektierten Lichts in ein textiles Gewebe umwandelt, transformiert sie das Immaterielle ins Materielle. Damit bringt Kiki Smith ihren Marienmantel mit anderen katholischen Reliquien und wundertätigen Textilien in Verbindung wie dem Grabtuch von Turin, dem Schleier der Veronika und der Jungfrau von Guadalupe.
Das reflektierte Licht des Mondes brachte sie als Kind dazu, Gott als Sonne und die Menschen als deren Spiegelbild zu betrachten: „Ich dachte immer, oh, ich möchte wie der Mond sein. Ich möchte ... der Beweis („evidence“) auf Erden sein.“ Der Mond hat für sie eine enorme Anziehungskraft, „aber er ist auch einfach eines der schönsten Dinge, die man am Nachthimmel sehen kann", sagt Kiki Smith und vergleicht ihn mit der Jungfrau Maria: "Sie ist etwas, das man ansprechen kann. Die Sonne ist grausamer, man kann ihr nicht in die Augen sehen, während man dem Mond seine ganze Sehnsucht, seine Gebete, seine Traurigkeit und alles andere anvertrauen kann.“
„Maria breit den Mantel aus“ ist eines der bekanntesten Marienlieder (erste Druckfassung um 1640): „Maria breit den Mantel aus / Mach Schirm und Schild für uns daraus; / Laß uns darunter sicher stehn, / bis alle Stürm’ vorübergehn.“ (Textfassung von Joseph Hermann Mohr, 1891). Immer wieder hat sich Kiki Smith dieser Gestalt gewidmet: „Ich bin ein großer Fan der Jungfrau Maria. Ich bin als Katholikin aufgewachsen. Zahlreiche meiner Werke beziehen sich auf die Jungfrau Maria. Ich habe viele Versionen gemacht und sie in unterschiedlicher Art und Weise bearbeitet.“ Kiki Smiths berühmte Skulptur Virgin Mary aus dem Jahr 1992 breitet ihre Arme aus, weil sie bereit sei, alles zu umfassen. Sie stehe für dieses offene Mitgefühl, das uns umhüllt, das wir aber auch als Vorbild für unser Verhalten in der Welt betrachten können, sagt die Künstlerin. In ihrem Verständnis umfasst der Mantel Mariens den ganzen Himmel und alle Himmel und schließt alles ein, was uns gegeben ist. Maria bittet uns und fordert uns heraus, uns in ihren Mantel zu hüllen und uns durch Mitgefühl und Handlungen radikaler Empathie zu erweitern. Indem sie ihren Mantel anbietet, ermutigt Maria uns, uns ihr in ihrer bedingungslosen Liebe zu allen fühlenden Wesen anzuschließen. So wie sie durch ihr Leiden in eine Figur der Hoffnung verwandelt wird, bittet sie uns, ihren Mantel zu tragen und uns selbst zu verwandeln.